Zurück zu Inhalt


  Das Nibelungenmuseum in Worms -  
  aus der Sicht der Museumsmacher

 

 

 

 

 

 

  


... weiter

Die Bleibe des unbekannten Dichters

Wir haben es erst langsam verstanden : ein Mythos ist ein
ganzheitliches Phänomen. Keine einzelne, äußere Perspektive könnte ihn jemals objektiv beschreiben. Die Wissenschaftler streiten sich darüber, sei es über Theorien oder über Detailfragen. Jede einzelne ihrer Perspektiven wirkte nur partiell (oder andersherum: totalitär), wenn sie zur offiziellen Version in einem Museumskontext erhoben würde. Also: wie kann man von einem Mythos sprechen? Und wer soll darüber sprechen?

Die Antwort hat sich ganz natürlich aufgedrängt: Das Nibelungenmuseum ist kein traditionelles wissenschaftliches Museum, sondern eine künstlerische Schöpfung, die zwar lesbar sein muss, aber als solche beurteilt werden will. Das Museum schreibt sich damit in die lange Reihe von Werken ein, die die Nibelungen über die Jahrhunderte hervorgerufen haben. Es liefert einen Überblick über all diese Interpretationen und fügt ihnen eine weitere hinzu. Konkret wird der Besucher des Museums durch die Stimme eines Erzählers gelenkt, der kein anderer ist als der angenommene Autor des Nibelungenliedes. Da er ja unbekannt ist, hört man seine Stimme in der Vorstellung, er spreche aus dem Reich der Toten! Kein Zweifel an seiner fiktiven Natur, die niemandem entgehen wird! Nichtsdestotrotz sind die Vorgänge, die der Erzähler berichtet, nach bestem Wissen ermittelte historische Fakten. Wenn er selbst zweifelt, benutzt er den Konjunktiv. Und was seine Identität betrifft, über die im Übrigen verschiedene Theorien streiten: Sie bleibt sorgsam verborgen.

Durch die ersten zwei Themenräume, die beiden Türme, führt der fiktive Erzähler. Im Sehturm entwickelt, erklärt und kritisiert er die
Wechselwirkung aus Geschichte, Literatur und Kunst, die den
Nibelungenmythos hat entstehen lassen. Diese "Rezeptionsgeschichte" scheint mitten in dem goldenen Stab zu brodeln, der wie eine riesige Recyclingmaschine für alle von den Nibelungen inspirierten Bilder und Musikstücke ist. Der Besuch des ersten Teils dauert etwa 20 Minuten und geht über eine gewendelte Treppe um das Rütelin herum. Er benennt die Hauptkapitel des ursprünglichen literarischen Werkes und zeichnet gleichzeitig die einzelnen Etappen der Mythenbildung nach.

Der Hörturm ist "in Wahrheit" die Schreibstube des Erzählers. Hier fühlt er sich wohler, da er endlich die Gelegenheit hat, sein eigentliches Werk zu präsentieren und nicht mehr das, was andere daraus gemacht haben. Sie können dort auf einer Reihe von "Hörsesseln" Platz nehmen und Passagen des Originalliedes anhören. Sie werden auf mittel- hochdeutsch gesprochen und simultan übersetzt. Der Erzähler nimmt sich seine Strophen vor, um von da aus etwas über seine Quellen, über mittelalterliche Gebräuche und Literatur und über die Leser seiner Zeit zu sagen. Er erinnert auch an seine unbekannten oder berühmten Dichterkollegen, die, kurz vor oder nach ihm, dem Nibelungenlied verwandte Werke verfassten.

Am Ausgang des Hörturms lädt der Erzähler dazu ein, hinunter zu steigen unter die Erde, unter die Stadt Worms, in den Schatzraum. Zu diesem Zeitpunkt werden Sie die Idee verstanden haben: Wenn der Autor unter die Lebenden zurückgekehrt war, dann deshalb, um seinen Text zu rehabilitieren, sein unverstandenes, entfremdetes, in mannigfachen Wiederholungen verschwommenes Werk, um "Mord und Totschlag zu rechtfertigen". Er tut es auch, um die Lebenden von der Bürde des Fluches der Nibelungen zu befreien, der offenbar von seinem Werk Besitz ergriffen hat, genauso wie es mit dem Ring Andvaris und dem gesamten Schatz geschehen war. Möge es dem Dichter, in seinem eigenen Haus, gelingen, Sie mit dem Lied und mit seiner Vorstellungswelt zu versöhnen!

  > weiter... Ein Meer aus Bildern

Kontakt : adelaide@km2.net