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Ein Denkmal
unter der Stadt
Merkwürdiges Museum, in dem es keine Sammlung, kein Original, keine
hohe Kunst und kein einziges Kleinod gibt! Und trotzdem handelt es sich
um einen Schatz, und was für einen! Tatsächlich wurde, gemäß
der Nibelungensage, vor langer, langer Zeit,
der berühmteste Schatz, den die Welt je gesehen hatte, von einem
der Helden des Nibelungenliedes im Rhein versenkt. Dies geschah in
unmittelbarer Nähe zur Stadt Worms. Das Geheimnis dieses Schatzes
liegt in einem Ring, von dem man wusste, dass er eine unerschöpfliche
Quelle von Reichtum, Liebe und Glück für seine Besitzer sei,
solange sie ihn nicht als Instrument eigener Machtausübung benutzten.
Das Gegenteil würde sie unvermeidlich ins Verderben führen.
Die Idee des Schatzes, zu der eine lange nordische und germanische Tradition
existiert, wurde vor
allem von Richard Wagner aufgegriffen (der darin, so sagt man, ein
Symbol für "das Kapital" sah). Ist es vielleicht bei Ihnen
genauso, dass Sie die Nibelungen über sein Werk bereits kennen, oder
zu kennen glauben? Viele andere Künstler haben sich im Laufe des
19. und 20. Jahrhunderts mit dem Nibelungenlied befasst. Weithin wurde
aber der Missbrauch des Liedes durch die Nationalisten beherrschend und
fand seinen Höhepunkt im schrecklichen Finale des Nationalsozialismus,
das so sehr dem Untergang der Nibelungen glich.
Noch heute wissen viele Wormser, dass der Schatz zu ihren Füßen
ruht. Natürlich ist es nur eine Sage, ein diffuses Symbol, das keinen
Platz im Alltag beansprucht. Und trotzdem wird der aufmerksame Reisende,
der Worms und seine Umgebung besucht, jene Vorstellung überall zutage
treten sehen, vor allem in den Namen von Straßen, Plätzen und
Geschäften. Wie Sie selbst, haben auch wir das wahrgenommen, als
wir zu Beginn unseres Abenteuers, ein Museum zu konzipieren, durch die
Stadt streiften. Auf dem Domplatz hat ein einfaches Graffiti auf einer
Informationstafel unsere Aufmerksamkeit geweckt. Ein Kreuz zeigte auf
dem Stadtplan eine bestimmte Stelle an: "Schatz" Das war der
Beweis! Man sah ihn nicht, aber er lag irgendwo unter uns. So entstand
die Überzeugung, dass der Schatz der Nibelungen wie ein "unsichtbares
Monument" in unser aller Vorstellung agiert. Es beherrscht die Stadt
stärker als die wenigen sichtbaren Monumente, die Worms nach den
zahlreichen Zerstörungen noch besitzt.
Gewiss, die
Vorstellung vom verborgenen, ungehobenen Schatz hat all die Kriege überstanden,
jedoch : was bleibt wirklich von ihm übrig im kollektiven Gedächtnis?
Die entfernte Erinnerung an die sagenhaften Abenteuer, die im Lied erzählt
werden, die Bilder einer unwirklich schönen Prinzessin und eines
unwirklich starken Drachentöters, die wohlbekannten Arien Richard
Wagners, die enge Verbindung mit dem deutschen Nationalismus, anziehend
als Kunstwerk, abstossend in seiner Wirkungsgeschichte und dabei doch
ein Teil unserer selbst: mächtig, schmerzhaft, verdrängt, doch
immer untrennbar.
Sie selbst, die Sie gerade das Museum der Nibelungen besuchen, nehmen
wahrscheinlich diese diffuse Erinnerung wahr. Und eben von der Verworrenheit,
der es seit Jahrhunderten gelingt, an Mythen zu stricken, wird hier die
Rede sein. Sie sehen sie im Sehturm am Werk, in dem monumentalen Metallkörper
in der Mitte: einem goldenen Zepter mit tausenden von eingearbeiteten
Bildern. Dieses Rütelin, wie es im Nibelungenlied genannt wird,erscheint
dort als Bestandteil des
Schatzes. Im Sehturm werden Sie etwas über das unentwirrbare
Zusammenspiel von Kunst und Politik erfahren, durch das der
Nibelungenmythos entstanden ist. Von dort aus gehen Sie zum Hörturm.
Hier wird
Ihnen das Nibelungenlied selbst bzw. der historische und
literarische Kontext seiner Abfassung vorgestellt. Sie werden sehen
oder besser hören, dass das Nibelungenmuseum auch ein richtiges
Literaturmuseum ist. Am Ende können Sie erfahren, wie die virtuelle
Welt des "Nibelungenschatzes" jenem "unsichtbaren Monument
unter der Erde" Ausdruck verleiht, das so schwer auf unseren Träumen
lag. Unter der Stadt werden Sie in eine Welt-unter-der-Welt eindringen.
Sie werden die Energien spüren, die dort herrschen, und die feinen
Netze erahnen, durch die sie mit der irdischen Welt verwoben ist. So werden
Sie von der Stadtoberfläche in eine überdeckte poetische Sphäre
hinabsteigen, vom Sichtbaren ins Unsichtbare, vom Lauf der Zeit zur Ewigkeit
des Mythos.
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